Deutschland
1. Arndt, Jahn und die Deutschtümler
von Léon Poliakov
Der Kult der germanischen
Rasse, der in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftaucht,
ist eine Erscheinung, die in den anderen Ländern keine Entsprechung
hat. Unter den verschiedenen Arten des europäischen Nationalismus,
die voller Überschwenglichkeit miteinander zu wetteifern beginnen,
nimmt keine diese von der Biologie bestimmte Form an. Fast ohne einen
Übergang bewegen sich in der Zeit zwischen 1790 und 1815 die Autoren
von der Vorstellung einer besonders deutschen Mission hin zur
Verherrlichung der Sprache, und von da gehen sie dann zur
Glorifizierung des deutschen Blutes über; dies alles geschieht im
Rahmen eines "Gegenmessianismus" ganz eigener Art, der sich
als Gegenstück zum universalistischen französischen Messianismus
herausbildet. Das Drama der Französischen Revolution bleibt die
Grundgegebenheit der deutschen Tragödie des 20. Jahrhunderts; denn
alles oder fast alles ist in Deutschland in dem uns beschäftigenden
Bereich schon ein Jahrhundert vor der Entstehung der Hitlerbewegung
gesagt worden.
Aus der Sicht des
rassistischen Antisemitismus führt die deutsche Wahnvorstellung von
der Reinheit des Blutes zu einer Verdammung der Juden, auch wenn ein
besonders ausgeprägter Haß hier fehlt; neben dem Typus des
international sich regenden Antisemiten, dessen gesamte Vorstellungs-
und Gedankenwelt von Juden bevölkert ist, sieht man hier den
deutschen Typus des subjektiv nicht antisemitischen Patrioten in
Erscheinung treten, der den Juden gegenüber aber deshalb feindselig
gesinnt ist, weil er sich zum Mythos der Rasse bekennt. Dieser zweite
Typus kündigt sich mit den Schriften der beiden großen Apostel des
deutsch-christlichen Rassismus, nämlich
mit Ernst Moritz Arndt und
Friedrich Ludwig Jahn an.
Diese beiden Unruhe
stiftenden Schriftsteller markieren,
wie Harry Pross in seinem Buch
"Dokumente zur deutschen Politik 1803-1870" [Frankfurt/M.
1959, S. 78 f.] bereits festgestellt hat, "das Debüt des
Kleinbürgers im deutschen Nationalismus." Schließlich stammten
beide nicht aus rein deutschem Geblüt; denn Arndt war zunächst
schwedischer Untertan, während Jahn eine weit zurückgehende
tschechische Abstammung hatte, worauf auch sehr wohl sein Name
hinweist. (1) Diese Einzelheit läßt
vielleicht auf einen der
wichtigsten Punkte im Hinblick auf das germanische Prophetentum
schließen, dessen große Verkünder im Verlauf der Generationen aus
allen Ecken des europäischen Umfeldes hervorgegangen sind. (2)
Von
diesen beiden Männern bleibt Arndt (1769-1860) der am besten
bekannte. Vor allem in ihm sahen die Nationalsozialisten ihren großen
weltanschaulichen Vorläufer. Die von ihnen zitierten Texte Arndts
stützen gründlich diese ideologische Verbindung ab; um so
bemerkenswerter sind die Überlegungen eines seiner Apologeten in der
Nachhitlerzeit, als er schrieb, daß "in seiner persönlichen
Entwicklung sich der besondere Weg, den das deutsche Nationalgefühl
genommen habe, widerspiegele." (3)
Aber der uns hier
interessierende Arndt ist nicht jener, der Haßgesänge gegen
Frankreich dichtete, auch nicht derjenige, der von einem Deutschland
träumte, das das Elsaß, die Schweiz und die Niederlande umfaßt,
noch ist es der Mann, der die Aggressionstriebe des Kindes
verherrlichte; es ist vielmehr jener Arndt, von dem der Freiherr vom
Stein, dessen Sekretär er war, sagte, "er gehöre offenbar
einem Stamm amerikanischer Wilden an, und habe noch die
Hühnerhundnase zum Aufwittern des verschiedenen Blutes". (4) Arndt nahm an, daß die Überlegenheit des deutschen Lichtvolkes in
seinem Blut verwurzelt sei. Für diesen frommen Lutheraner galt es
als ausgemacht, daß nur dieses Volk allein den wahrhaften göttlichen
Lichtfunken besitzen konnte. Er schrieb:
"Ich glaube nicht zu
irren, wenn ich behaupte, daß der kräftige, lebenvolle und
saftvolle Wildling, Germane genannt, der rechte Stock war, dem der
göttliche Keim für die edelsten Früchte eingeimpft werden konnte.
Der Germane und die von ihm durchschwängerten und befruchteten
Romanen sind die einzigen, welche den Himmelskeim durch Theologie und
Philosophie zum rechten Sprießen und Blühen gebracht haben und
welche die Reste der alten eingeschlafenen und wenig theilnehmenden
Welt und die an-und um-wohnenden Völker fremder Art als Allherrscher
beleben und leiten." (5)
Aber vor allem kommt es
darauf an; die Teutschkeit, das "germanische Wesen", das
sich vor allem durch seine Einfachheit, seinen Sinn für Freiheit und
seine Rechtschaffenheit auszeichnet, vor aller fremden Befleckung,
vor allem vor der französischen Welschheit zu schützen, die "wie
ein betäubendes Gift den edelsten Keim angreift." (6) So
predigte Arndt während seines langen Lebens unaufhörlich den Kampf
gegen die Vermischung des Blutes oder gegen die "Verbastardung"
und forderte deshalb undurchdringliche Scheidewände zwischen den
Völkern; seine nationalsozialistischen Kommentatoren hatten leichtes
Spiel bei dem Nachweis, daß diese Trennungswände noch viel fester
abgeschlossen und eingeengt seien als die Abgrenzungen, die von der
Lehre und Gesetzgebung Hitlers vorgenommen wurden. Arndt setzte
nämlich die menschlichen Rassen mit den Völkern gleich und
unterschied so zwischen einer deutschen, französischen,
italienischen oder russischen Rasse; er verkündigte
unmissverständlich, dass diese sich auf die gleiche Art und Weise
wie die verschiedenen Kaninchen- oder Pferderassen fortpflanzten. Um
die unheilvollen Folgen einer Rassenvermischung aufzuzeigen, bezog er
sich auf die Erfahrungen englischer Viehzücher. In all diesen
Äußerungen glaubt man gewisse Hypothesen der Anthropologie aus der
Aufklärungszeit wiederzuerkennen, die in der im Deutschland dieser
Zeit vorhandenen Atmosphäre bis in eine solche Überspanntheit
vorangetrieben wurden; aber Arndt berief sich seinerseits auf ganz
andere Quellen. Den Kult der Reinheit des Blutes glaubte er bei den
alten, von Tacitus beschriebenen germanischen Stämmen
wiederzufinden, und als Protestant, der oft genug im Alten Testament
gelesen hatte, berief er sich zur Unterstützung seiner These
ebenfalls auf den Zorn des Ewigen gegen "die Söhne Gottes, die
sahen, daß die Töchter der Menschen schön waren." (Gen. VI,
1-6). So war nach seiner Meinung die Sintflut nichts anderes als die
gerechte Strafe für die erste "Bastardierung."
Das Blut der Juden
scheint für Arndt nicht schlechter und nicht besser gewesen zu sein
als jedes andere fremde Blut auch. Wenn er seine Stimme nachdrücklich
gegen die Zulassung polnischer Juden, "dieser Plage und Pest der
Christen", in Deutschland erhob, so entfernte er sich gar nicht
so weit von den Anschauungen der Befürworter der Emanzipation, indem
er der Hoffnung Ausdruck verlieh, die Juden Deutschlands würden
rasch verschwinden, wenn sie erst einmal ihren Übertritt zum
Christentum vollzogen hätten. "Die Erfahrung zeigt", so
schrieb er, "daß, sobald sie ihre Verwirrung stiftenden Gesetze
aufgeben und Christen werden, sich die Besonderheiten des jüdischen
Charakters und Typus rasch verwischen und daß man in der zweiten
Generation kaum noch den Samen Abrahams erkennen kann."
In der Erinnerung der
Deutschen ruft der Name Arndts vor allem den Dichter wach, der an der
Seite von Heinrich von Kleist,
Theodor
Körner und Max von
Schenkendorf sein Volk zu den Waffen aufrief und es aufforderte, den
fremden Tyrannen zu verjagen oder zu erwürgen. Aber der Begriff des
"unreinen Blutes", mit dem man auf beiden Seiten des Rheins
das Gefilde tränken sollte, wurde in Deutschland rasch zu dem
Begriff eines minderwertigen Blutes; dies geschah um so leichter, als
Deutschland - kaum hatte der Kriegsrausch der Deutschen seinen
Höhepunkt erreicht - sich mit den Wirklichkeiten des Friedens
konfrontiert sah und darum seine ganze Kraft in dem keine
Verantwortung erheischenden Bereich der Einbildung und Vorstellung
vergeuden konnte. Tatsächlich dringt die Deutschtümelei in einer
hinterhältigen Weise vom Jahr 1815 an bis in die Schulbücher vor.
Dies trifft auf die 1816/17 erschienene Teutsche Geschichte von
Friedrich Kohlrausch
zu, die an den preußischen Schulen bis zum Ende
des 19. Jahrhunderts benutzt wurde; sie bezog sich ebenfalls auf
Tacitus,
um die Tugenden des deutschen Volkes zu rühmen, "jenes
von Gott erwählten Gefäßes zur Erhaltung seiner Lehre",
dessen Reinheit in einem scharfen Gegensatz zu der Entartung der
Juden, Griechen und Lateiner stand. Für einen Mann wie Kohlrausch
waren die Deutschen, wie auch für Fichte
und Arndt,
das Volk des Neuen Bundes, dem Luther diese seine Mission bewußt gemacht
hatte. Dadurch wurde aber der gemeinsame Messias, der dem Dienst an
der Menschheit ergeben war und den die Theologen der vorangehenden
Generation verkündigt hatten, zu einem Übermötigen und stolzen
Messias, nachdem er einmal in der Rasse und im Blut Gestalt
angenommen hatte.
In der Form von zahllosen
Variationen fand die Vorstellung von einer Erwählung der Deutschen
bei den geistigen Vertretern der Romantik ihren Niederschlag; Dichter
wie Novalis und Hölderlin brachten diesen Gedanken auf ihre Art zum
Ausdruck, und die Namen von Männern wie Adam Müller, Joseph Görres
und seinem Freund Perthes rufen uns in Erinnerung, daß eine
derartige Vorstellung an der Grenze der Konfessionen keineswegs Halt
machte. (7) Bei Fichte hüllt sich diese Denkweise
in das Gewand der
Metaphysik, während
Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) diesem
Gedanken eine unmittelbarere und gröbere Form verleiht; darüber
hinaus verstand es dieser Apostel der Leibesertüchtigung, eine
Volkskunde zu vertreten und eine Volksbewegung ins Leben zu rufen,
die in mancher Hinsicht die paramilitärischen Organisationen des
Nationalsozialismus vorwegnimmt.
Der
Turnvater Jahn ist
eine merkwürdige Persönlichkeit, dessen Lebenslauf und Stil
überdies an den Führer des Dritten Reiches denken lassen, obwohl er
gegenüber den Juden verhältnismäßig tolerant ist. Er ist
Pfarrerssohn; schon früh legte er einen jähzornigen und
unbeständigen Charakter an den Tag und zeigte sich dem Studium
gegenüber widerspenstig. Nachdem er hintereinander von verschiedenen
Universitäten verwiesen worden war, führte er bis zum Alter von
fünfundzwanzig Jahren ein elendes Leben und trieb sich dabei viel
herum. Dabei zeigte er eine ausgesprochene Grobheit, die seiner
Meinung nach der deutschen Redlichkeit entsprach und die er zeit
seines Lebens nicht ablegte; ein Zeichen dafür ist jener Bericht,
aus dem hervorgeht, welch tiefen Anstoß er über den Nachdruck der
Darstellung der Sixtinischen Madonna empfunden habe, die seiner
Meinung nach unzüchtig sei, und er verbreitete sich über dieses
Thema in einer ungehobelten Weise. Die wunderliche Ausstaffierung,
für die er Vorliebe empfand und die er als "altdeutsche Tracht"
bezeichnete, entsprach seinen anderen Besonderheiten. Die erste
Schrift, durch die er sich in den Vordergrund schob, war das Deutsche
Volkstum (1810), dessen Gedanken sich aus dem Unglück Preußens aus
dem Jahre 1806 herleiteten. In einem sehr persönlich gehaltenen
Stil, der von Wortschöpfungen, die er erfunden hatte, nur so
gespickt war - wie zum Beispiel gerade auch der Ausdruck "Volkstum"
-, legte er hier ein Programm der nationalen Erneuerung dar, das in
der Ausmerzung aller fremden, vor allem der französischen Einflüsse
bestand. Zu diesem Zweck sollten nicht nur die Kunst und die
Literatur, sondern auch die Sprache gereinigt werden; die
ausländischen und fremden Vornamen einschließlich derjenigen
biblischen Ursprungs sollten verschwinden. Die Lustbarkeiten des
Volkes sollten in eine gewisse Ordnung gebracht werden, und jeder ein
wenig feierliche Akt im Leben, wie etwa der Kirchenbesuch, sollte von
den Deutschen beiderlei Geschlechts in der Volkstracht, wie Jahn sie
beschrieb, begangen werden; das bedeutete: "Verschiedene
Farbenbänder beim weiblichen Geschlecht: Mägdchen, grün; Dirnen,
weiß und orange; Jungfrauen, rot; Frauen, blau; Matronen,
silberfarben und braun." (8) Es versteht sich von selbst, daß
der Kampf gegen die Bedrohung durch das Fremde auch einschloß, einen
Damm gegen das Eindringen fremden Blutes zu errichten; dies müßte
deshalb geschehen, weil sonst das deutsche Volk der Auslöschung
preisgegeben wäre. Er brachte diese Gedanken so zum Ausdruck:
"Mischlinge von
Tieren haben keine echte Fortpflanzungskraft, und ebensowenig
Blendlingsvölker ein eigenes volkstümliches Fortleben... Wer die
Edel Völker der Erde in eine einzige Herde zu bringen trachtet, ist
in Gefahr, bald über den verächtlichsten Auskehricht des
Menschengeschlechts zu herrschen." (9)
Es handelt sich also um
die gleiche Veterinärphilosophie wie bei Arndt, aber sie wird hier
mit noch mehr Derbheit entwickelt. Bei seiner Rühmung der Rasse der
Deutschen bestreitet Jahn jedoch nicht die Verdienste der anderen
Völker, vorausgesetzt, daß sie rein von aller Vermischung seien; in
seinen Augen ist die "Sünde gegen das Blut", die
widernatürliche Verbindung und Paarung, ein Greuel, deren Spuren
sich bis in die tausendste Generation nicht verwischen. In diesem
Zusammenhang erreicht sein Stil der deutschtümelnden Schmähreden
den Gipfel der Unübersetzbarkeit. (10) Dieser Pfarrerssohn
prophezeit, daß Gott seine Hand von den "Mangvölkern"
abzieht, und er versäumt nicht, dazu Mose und Nehemia zu zitieren.
Deshalb befürwortet er den Verlust der Bürgerrechte für die
Deutschen, die eine Verbindung mit Ausländerinnen eingehen.
Hinsichtlich der Juden kann man bei ihm keine besondere Animosität
beobachten, aber es versteht sich von selbst, daß er seinen
Landsleuten untersagt, die "Rahels", d. h. die Jüdinnen zu
heiraten. Im übrigen kennt Jahn von tatsächlich reinen und edlen
Völkern nur die Griechen des Altertums und die Deutschen, die deren
Platz eingenommen haben; dies sind die beiden heiligen Völker der
Erde und das an zweiter Stelle genannte ist der einzige Erbe des
Geistes des "Urchristentums." Die Ansichten Jahns im
Hinblick auf die internationale Politik sind ganz genauso vorschnell:
"Natürliche Grenzen oder Scheiden gibt es; ein flüchtiger
Blick auf die Landkarte unseres Erdteils wird die meisten auffinden."
Man muß solche monströsen Staatsgebilde [Staatenmisteln] wie etwa
Portugal beseitigen, welches - das Bild ist von Arndt entlehnt - ein
Krebsgeschwür am Leibe Spaniens darstellt. Jahn ist zwar nicht der
einzige Europäer seiner Zeit, der die Wohltaten des Krieges rühmt;
doch findet er dafür besonders kraftvolle Formulierungen. "Aber
das weiß ich, daß im langen Frieden von außen innerliche
Streitigkeiten, Hader und Zwietracht zum Zeitvertreib ausgebrütet
werden, um die Staatskraft zu vergiften. Uns fehlt des Krieges
Eisenband und der Waffen Stahlkur." [Brief vom 17. Januar 1847]
Als er in hohem Alter bereits in das deutsche Parlament von 1848
gewählt worden war, bezeichnete er seine Zeitgenossen als "das
Ungeziefer eines langen Friedens, das Ungezücht eines durch und
durch verderbten Zustandes". [Brief vom 24. Oktober 1848] Wir
wollen diese Darstellung vervollständigen mit dem Hinweis auf seine
ausgeprägte Tierliebe, auf die wir auch bei anderen berühmten
Deutschtümlern wieder stoßen; Jahn forderte sogar polizeiliche
Maßnahmen zum Schutz der Maikäfer.
Dies war Jahn als
Schriftsteller, von dem das Deutschland des 19. Jahrhunderts, von
Gervinus bis zu
Treitschke, nur mit
Ironie oder mit Unbehagen sprach
(11) und dessen prophetische Bedeutung im Hinblick auf die
Wahnsinnstaten der Gegenwart wir jetzt entdecken. Als Mann der Tat
offenbart er sich uns in den Jahren 1813-1814, als er ein Freikorps -
das Lützower Freikorps
- ins Leben rief, um über die Franzosen
herzufallen. Es trifft zwar zu, daß er sich dabei als ein
erbärmlicher Soldat erwies, der - so scheint es - nur bereit war,
den Feind von Mann zu Mann und mit der Axt zu bekämpfen; aber da er
von herkulischem Wuchs war, war er ein guter Ausbilder der Männer,
und als der Friede wieder ins Land eingezogen war, ermöglichten es
ihm diese Eigenschaften, den Kult des Turnens über das ganze Land
hin auszubreiten - das deutsche Wort "Turnen" für
"Gymnastik" gehört auch zu den von ihm geprägten
Wortneuschöpfungen. So wie er diese Leibesübungen verstand, sollten
sie zur moralischen Vervollkommnung der Deutschen beitragen; nach den
Aussagen eines seiner Schüler sollten sie "eine durchgreifende,
fortröckende Erhebung des gesammten Volkes zur höchsten Bestimmung
des Menschen, zu übereinstimmender Entwicklung aller von Gott
verliehenen Anlagen des Leibes und der Seelen..." (12)
ermöglichen. Tatsächlich wurden diese Turnvereine, die im Jahre
1818 fast sechstausend Anhänger um sich scharten, zu politischen
Konventikeln; sie standen unter dem Einfluß deutschtümelnder und
aufrührerischer Studenten und bildeten den Kern für die neuen
studentischen Korporationen, die Burschenschaften. Auf diese Welt
übte Jahn, der nach dem Kriegsende zu einem Nationalhelden geworden
war, eine einzigartige, nach den Aussagen eines Zeitgenossen
"grauenhafte" Macht aus. Er fand auch Gefallen daran, seine
ihm treu ergebenen Anhänger nach der Art der künftigen Wandervögel
für ausgedehnte Gewaltmärsche auszubilden. Die Juden waren davon
nicht ausgeschlossen; schließlich hatte ja bei den Heldentaten des
"Lützower Freikorps" ein Jude namens Simoni ihm als
Ordonnanz gedient. (13) Aber diese ganze Umgebung sollte sich für
die Juden nicht besonders günstig gestalten. Der Turner Wolfgang
Menzel, der in der Folgezeit ein berühmter Literarkritiker wurde,
berichtet in diesem Zusammenhang von einem bezeichnenden Vorfall.
Während eines besonders harten Marsches in brennender Julisonne gab
die Mehrzahl der Wanderer auf und es blieben nicht mehr als etwa zehn
Teilnehmer übrig. Menzel: "Durch die Anstrengungen von gestern
waren aber viele Turner noch sehr ermüdet, und einer, ein lang
gewachsener aber etwas schwächlicher Berliner Jude, blieb auf einem
Chausseesteine zurück und konnte nicht mehr fort. Jahn fuhr ihn
wüthend an, drohte ihn mit der Axt todtzuschlagen und machte solchen
unnützen Lärm, daß ich es nicht länger duldete. Nun fuhr er mich
an, aber ich hielt ihm Stand und erklärte ihm, daß ich mich des
freilich sehr weibischen und jämmerlich weinenden Juden annehmen
werde, obgleich ich keinen Groschen Geld hatte; denn nach Turnersitte
hatte jeder von uns sein mitgenommenes Geld, so lange die Turnfahrt
dauern würde, an einen gemeinschaftlichen Cassirer abgegeben,..."
Menzel blieb also bei seinem Schützling, der sich in einem elenden
Zustand befand; nach einer Stunde setzten sie sich wieder in Marsch,
und er erlebte die angenehme Überraschung, daß die ganze
Turnerschar sich quer über die Straße aufgestellt hatte: "Voran
der alte Jahn, der mich mit einer Lobrede empfing und mir nach seiner
ehrlichen Art vollständige Genugthuung gab, denn es reute ihn immer
selbst, wenn er in der Hitze zu weit gegangen war." (14)
Es geht hier um die
männliche Verbundenheit der Turnbegeisterten; an dieser Begebenheit
kann man eine besondere Lebensatmosphäre ablesen, nämlich die der
männlichen Bruderschaften oder der sogenannten Eliteeinheiten, die
sich um einen geliebten Führer scharen. Ein anderer Schüler Jahns,
der in der Folgezeit ebenfalls einen hohen Bekanntheitsgrad
erreichte, nämlich der Historiker Heinrich Leo, sprach von der
Wollust, die er empfand, wenn er sich selbst leibliche Schmerzen
zufügte: "Schon der Anblick eigener und fremder frischer Wunden
hat für mich etwas Entzückendes, wenn das rothe Blut auf dem
Fleische perlt und über es hinweg quillt oder sprudelt - und es
giebt nichts Schöneres als eine reingestoßene dreieckige Wunde..."
(15) Andere Turner unterzogen sich wieder anderen asketischen
Übungen. Aber der Führer selbst scheint als unnachsichtiger
Streithahn und Lärmbold es vorgezogen zu haben, seinem Nebenmenschen
körperlichen Schmerz zuzufögen.
Dieser Turnvater war
schon eine beunruhigende Persönlichkeit; Treitschke schrieb über
ihn, daß er den Feind mit Hilfe einer Bauchwelle aus Deutschland
verjagen wolle. (16) Ganz offenkundig ist
diese Posse im Abstand von
einem Jahrhundert der großen Tragödie vorausgegangen, oder - um
Heine zu zitieren - das Bellen der Köter hat den zukünftigen Einzug
der Gladiatoren angekündigt. (17)
Dieser Hauptkläffer bleibt in
vieler Hinsicht eine nur schwer einzuordnende Persönlichkeit. Rührt
dies daher, daß bis in unsere Zeit sein Lebenslauf und seine
geschichtliche Rolle nicht ernsthaft erforscht worden sind und daß
man auf den Nationalsozialismus warten musste, damit seine Bedeutung
aller Öffentlichkeit in die Augen sprang? Kurz vor der
Machtergreifung Hitlers schrieb ein deutscher Historiker im Hinblick
auf ihn in einer Universitätszeitschrift : "Wie wir heute das
Führerproblem wissenschaftlich und erlebend verstehen, ist genau
das, was wir erwarten würden." (18)
Zehn Jahre nach dem Sturz
des Führers versuchte ein Pädagoge, den Turnvater in einer
Lehrerzeitschrift der DDR zu verteidigen. (19) Man kann Jahn eine
gewisse Genialität nicht absprechen. Die volkstümlichen
Errungenschaften und Bezeichnungen, mit denen er sein Volk
beschenkte, waren ohne Zahl. Hiervon wollen wir nur den Ruf Gut Heil!
beim Antreten der Turner erwähnen, der das Sieg Heil! Hitlers
ankündigt. Eine andere Erfindung von ihm waren die Farben
Schwarz-Rot-Gold, die Farben des Freikorps Lützow, von denen er
behauptete, sie seien "altdeutsch"; sie wurden durch das
Parlament vom Jahre 1848 angenommen ("Parlament von Frankfurt")
und sind schließlich zu den Nationalfarben von West- wie von
Ost-Deutschland geworden.
So sah das Idol der
"Turner" und der deutschtömelnden Studenten aus, den
dynamischsten Elementen einer Jugend, die nach dem Jahre 1815 von
einer Einigung des Vaterlandes träumte und von den magischen Worten
"Freiheit" und "Revolution" schwärmte. In dieser
Zeit bildeten die Universitäten, vor allem diejenigen
protestantischer Observanz, das Hauptzentrum der politischen
Agitation. Aber das Programm dieser ersten deutschen Revolutionäre
war schon damals in einer widersinnigen Weise reaktionär. Diese
letztgenannten gaben sich kriegslöstern und chauvinistisch. Die sie
beflögelnden Gedanken suchten sie in einer Vergangenheit, die von
ihrer Einbildungskraft geformt war; auch im Bereich der Sitten nahm
eine angeblich germanische Reinheit und Keuschheit för sie den Platz
des Ideals ein. Als Görres in dieser Zeit dieses "dunkle
Rätsel" erläuterte, machte er darauf aufmerksam, daß die
Revolution in Deutschland bereits geschehen sei und daß sie "von
oben her" gemacht worden sei:
"In
Deutschland ist es nicht der Dritte Stand, der die Revolution gemacht
hat; die Regierungen haben sie unter dem Schutz einer fremden Macht
[Napoleon] gemacht... Bei uns bedienen sich die Anhänger des
Despotismus jakobinischer Formen und Praktiken, während umgekehrt
die Freiheitsfreunde teilweise die Grundsätze der französischen
Reaktionäre verteidigen. Das ist die Verwirrung, die den
ausländischen Beobachter zunächst vor ein dunkles Rätsel stellt."
Dies ist in der Tat ein
Rätsel. Ein Mann wie Jahn betrachtete sich als einen Liberalen, der
von einer reaktionären Regierung verfolgt wird; aber die Liberalen,
so wie sie in die deutsche Geschichte eingegangen sind, nämlich als
die Ideologen der Volkssouveränität - wie zum Beispiel ein Rotteck
(1775-1840) oder ein Dahlmann (1785-1860) - zeigten sich hinsichtlich
der Juden kaum weniger radikal als er. (20) Vor allem hat Karl von
Rotteck, der sich der Gewährung der politischen Rechte für die
Juden widersetzte, bei den letztgenannten die Erinnerung an einen
hartnäckigen Gegner hinterlassen. (21)
Die deutschen Liberalen
trachteten vor allem nach einer Erneuerung der Sitten an den
Universitäten. Arndt und Jahn hatten, jeder auf seine Weise, zu
diesem Zweck ein Programm für die Neuordnung der
Studentenverbindungen ausgearbeitet, das die neuen Burschenschaften
durchzuführen versuchten. Das Programm Arndts war von radikalerer
Natur und besaß aus diesem Grund auch eine größere Exklusivität,
denn es versperrte den Juden den Eintritt in diese Verbindungen.
Diese Frage rief heftige Auseinandersetzungen bei den verschiedenen
Burschenschaften hervor. Nach dem Urteil Treitschkes glaubten ihre
Mitglieder, "eine neue christliche Ritterschaft" zu sein,
und sie "zeigten ihren Judenhaß mit einer groben Unduldsamkeit,
die oft stark an die Tage der Kreuzzüge erinnerte." Schließlich
kam man überein, daß jede Burschenschaft selbst darüber
entscheiden solle, welchen politischen Weg sie beschreiten müchte.
Man kann dabei die merkwürdige Feststellung treffen, daß die
aktivsten und radikalsten Verbindungen, wie zum Beispiel die
Burschenschaft von Gießen, die unter dem Einfluß des "deutschen
Robespierre" Karl Follen stand, in der gleichen Zeit, wo sie von
einer direkten Aktion träumten, auf der Wichtigkeit des religiösen
Lebens und Praktizierens bestanden und sich weigerten, Juden in ihrer
Mitte aufzunehmen.
Hinsichtlich der
franzosenfeindlichen Gefühle ließ sich viel leichter eine
Einmütigkeit herstellen; in diesem Sinne legte die Burschenschaft
von Jena, die als die Mutter der neuen Verbindungen angesehen werden
kann, in ihren ersten Statuten fest, daß "diese ewigen Feinde
des deutschen Namens" niemals in ihren Kreis aufgenommen werden
könnten. über die Juden sagten diese Statuten jedoch nichts aus.
Der Kantianer Jakob Friedrich Fries, der im Jahre 1814 in Jena zu
lehren begann und dem der eindeutige Ruf eines Judenhassers
vorausgegangen war - "die ganze Judenheit zittert", schrieb
Goethe, "denn ihr
grausamster Feind hat sich in Thüringen
niedergelassen" -, erreichte eine entsprechende Revision der
Statuten.
Jahn und Fries waren die
treibenden Kräfte beim Zustandekommen des berühmten Wartburgfestes im Oktober 1817, welches dazu bestimmt war, des 300. Jahrestages der
Reformation ("innere Befreiung") und zugleich des 4.
Jahrestages der Schlacht von Leipzig ("politische Befreiung der Deutschen") zu gedenken. Aus diesem Anlaß strömten Abordnungen
von vierzehn anderen, zumeist protestantischen Universitäten nach
Jena, um dort die Allgemeine deutsche Burschenschaft zu gründen.
Nach einem feierlichen Umzug, dem ein Gottesdienst folgte,
veranstaltete eine Gruppe von Anhängern Jahns eine Verbrennung von
Büchern oder Gegenständen, die als deutschfeindlich und reaktionär
angesehen wurden; auf dem Scheiterhaufen lagen in einträchtiger
Nachbarschaft nebeneinander: administrative Verordnungen und ein
Korporalstock, ein Perückenzopf und die Germanomanie von Saul
Ascher; derartige Umstände bieten sicher keinen überzeugenden
Aufschluß über das Wesen dieser ersten Äußerungen deutscher
Freiheitssehnsucht. (22)
Ascher schrieb: "Ohne
Zweifel verbrannten sie meine Germanomanie, weil ich darin behauptet: daß jeder Mensch ebenso organisiert wie der Deutsche ist; daß das
Christentum keine deutsche Religion sei... " (23) Dieser
Kommentar eines im übrigen mittelmäßigen Autors kündigt die
enthüllende Rolle an, die von so vielen seiner berühmten
Glaubensgenossen aus Deutschland ausgeübt werden wird.
Wenn Jena in dieser Zeit zur Hochburg der politischen Agitation innerhalb der Studentenschaft geworden war, so wurden der Geist und die Gesinnung, die bei dem Autodafé auf der Wartburg vorgeherrscht hatten, von sehr aktiven Minderheiten an allen Universitäten gepflegt. Im Jahre 1818 beschrieb ein Student aus Heidelberg, der könftige Theologe
Richard Rothe, diesen geistigen Zustand in einem Brief an seinen Vater; dieser Brief ist um so bemerkenswerter, als sein Verfasser damals erst neunzehn Jahre alt war:
"Die Leute in Jena
hatten eine christlich-deutsche Burschenschaft gewollt, wir bis dahin
eine im strengsten Sinn des Wortes allgemeine, und wir beschlossen
daher, auch Juden und Ausländern ... den Zutritt zu uns zu
gestatten. Darob ergrimmten dann die Deutschen (etwa 20 an der Zahl)
gewaltiglich... Sie machen seitdem eine Secte in der Burschenschaft
aus und zeichnen sich bei allgemeinen Versammlungen hauptsächlich
dadurch aus, daß sie eine constante Opposition bilden und durchaus
immer anderer Meinung sind, als die ganze andere Burschenschaft. Sie
halten eng zusammen und haben ein ganz eigenes Wesen; sie turnen
fleißig, das muß man ihnen laßen, fechten auch, lachen selten,
reden wenig, ...gehen in deutschen Röcken einher mit gesenktem Blick
und halbtrauernd (über Deutschlands Not) wie Unerlöste, ... seufzen
viel, öbernehmen sich im Studieren eben nicht, und tun dabei, als ob
sie den Stein der Weisheit gefunden hätten und es allein mit dem
deutschen Vaterlande gut meinten, meditieren viel, wie sie dereinst
(und warum nicht auch schon jetzt?) die Heilande und Retter desselben
werden,..." (24)
Man muß dabei an jenen
Studenten von Göttingen denken, der bei Heine in einer Kneipe
ausruft, "daß man im Blut der Franzosen die Hinrichtung des
Konradin von Hohenstaufen rächen muß". In dieser Art und Weise
zeigten sich an den deutschen Universitäten die ersten Minderheiten,
die im Sinne eines rassistischen Pangermanismus tätig waren. Im
Jahre 1819 rief die Ermordung des Schriftstellers Kotzebue durch den
Studenten Sand Gegenmaßnahmen hervor und gebot ihrer Hetze Einhalt:
Arndt wurde seines Lehrstuhls an der Universität enthoben; Jahn
wurde des Hochverrats beschuldigt und in einer Festung eingekerkert.
Ihre Gedanken machten aber nur um so leichter ihren Weg; was die Idee
von der Reinheit der deutschen Rasse anlangt, so lebte die
Auseinandersetzung darüber in den Burschenschaften in der zweiten
Hälfte jenes Jahrhunderts wieder auf, und in der Zeit kurz nach 1918
schlossen diese fast ausnahmslos die "nichtarischen"
Studenten aus ihrer Mitte aus; auch die deutschen Professoren, so
bemerkte Max Weber im Jahre 1919,
sagten von nun an zu ihren
jüdischen Studenten: lasciate ogni speranza [Laßt alle Hoffnung
fahren!]. (25)
Anmerkungen:
(1) Jahn schrieb, daß
seine Vorfahren in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs aus Böhmen
ausgewandert seien. Vgl. Deutsches Volkstum, Reklamausgabe,
Leipzig, o. J., S. 22.
(2) Der Franzose
Gobineau, der Engländer H. St. Chamberlain, der Balte Alfred
Rosenberg, der österreicher Adolf Hitler usw.
(3) Walter Bußmann, Ernst
Moritz Arndt; in: "Das Parlament", 9. März 1960, S.
141-146. Wir wollen auch auf die Arbeit von Profeßor Ernst Weymar
aufmerksam machen, die mit dem gleichen Titel in der Nummer vom 18.
Mai 1960 in: "Das Parlament" erschienen ist und in der
dieser Autor den "prärassistischen" Aspekt im Denken
Arndts deutlich hervorhob.
(4) Zitiert von Hermann
Blome, Der Rassengedanke in der deutschen Romantik und seine
Grundlagen im 18. Jahrhundert; Berlin 1943, S. 297. Dieser Autor
bezeichnete Arndt als den "ersten Vorkämpfer für eine
rassenhygienische Kulturpolitik" (S. 309).
(5) Zitiert von E.
Weymar, a. a. O., S. 322.
(6) Die nachstehende
Zusammenfassung der Gedanken Arndts aus dem Bereich der Anthropologie
erfolgt nach E. Weymar [a. a. O.] und: "Das Selbstverständnis
der Deutschen"; Stuttgart 1961, S. 41-48. Vgl. auch G. Illgen,
Die Anschauungen Ernst Moritz Arndts über Volk und Staat; 1938.
(7) Adam Müller: "Der
große Föderalismus europäischer Völker, welcher dereinst kommen
wird, so wahr wir leben, wird auch deutsche Farben tragen; denn alles
Große, Gründliche und Ewige in den europäischen Institutionen ist
ja deutsch". (Elemente der Staatskunst, 1809; zit. von Gerhar Kaiser:
"Pietismus und Patriotismus im literarischen
Deutschland"; Wiesbaden 1961, S. 220.) Görres: "Wie ehedem
Judäa, so ist heutzutage Deutschland das heilige Land, wo die
Religion ihren Tempel begründet...Es kommt den Deutschen zu, die
Priester der modernen Zeit zu sein, die brahmanische Kaste."
(Fall der Religion und ihre Wiedergeburt, 1810; zit. von R. Gerard,
L'Orient et la pensee romantique allemande; a. a. O., S. 171 f.)
Friedrich Christoph Perthes: "Wir Deutsche sind ein auserwähltes
Volk, ein Volk, welches die Menschheit repräsentierte und alles zur
allgemeinen Angelegenheit machte. Wir waren nie bloss national."
(Brief an Joh. von Müller, 1807; zit. von M. Boucher, Le sentiment
national en Allemagne; Paris 1947, S. 79.)
(8) Deutsches Volkstum;
Verlag Reclam, Leipzig, o. J., S. 194 f.
(9) Ebenda, S. 40.
(10) Hören wir davon
eine Kostprobe: "Im Mittelalter gleichen die Mangvölker
[darunter werden vor allem die Franzosen verstanden] einem Mischsud,
schäumen wie Most und toben im wilden Drunter und Drüber, bis die
widerstrebenden Urteile sich zersetzen, auflösen und endlich wie
Quenckbrei vereinen... Mangvölker fühlen ewig die Nachwehen, die
Sünde der Blutschande und Blutschuld verfolgt sie, und anrüchig
sind sie immerdar auch noch bis ins tausendste Glied..." (Werke
zum deutschen Volkstum; 1833. Vgl. Jahn, Werke; Hof 1885, Bd. II, S.
560.)
(11) "In Jahn
erscheint Alles, was die Fichte und Arndt zur Förderung deutschen
Wesens und deutscher Freiheit thaten und riethen, zum Zerrbilde
verzogen und überspannt." (Georg Gottfried Gervinus, Geschichte
des 19. Jahrhunderts; Leipzig 1856, Bd. II, S. 367.) Dies ist der
vorherrschende Ton, und Treitschke hat in seiner "Deutschen
Geschichte" Jahn ganze Seiten voll beißenden Humors gewidmet.
Aber im 20. Jahrhundert hört der ironische Ton auf, unabhängig
davon, welcher Art die politische Religion des Verfassers ist. In
unseren Tagen steigert sich dieser Ton, vor allem in der Deutschen
Demokratischen Republik, oft zu einer unverhohlenen Begeisterung;
Jahn ist im Begriff, ein "bedeutender Vorfahre" des Volkes
zu werden.
(12) Franz Passow, Das
Turnziel; Breslau 1818, S. 65.
(13) Vgl. O. F. Scheuer,
Burschenschaft und Judenfrage. Der Rassenantisemitismus in
der deutschen Studentenschaft; Berlin 1927, S. 8, Anm. 10.
(14) Wolfgang Menzel,
Denkwürdigkeiten; Leipzig 1877, S. 111 f.
(15) Heinrich Leo, Meine
Jugendzeit, Gotha 1880, S. 62.
(16) H. von Treitschke,
Deutsche Gechichte im Neunzehnten Jahrhundert; Leipzig 1882, Bd. II,
S. 387.
(17) Siehe weiter unten
S. 208.
(18) Carl Brinkmann, Der
Nationalismus und die deutschen Universitäten im Zeitalter der
deutschen Erhebung; in: "Sitzungsberichte der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften", 1932, S. 67.
(19) Vgl. Willy Schröder,
Das pädagogische Vermächtnis Jahns; in: "Deutsche
Lehrerzeitung", Nr. 34, Berlin (Ost) 1955, S. 3 ff. Es heisst
dort u. a.: "Es ist Jahns großes Verdienst, zur Zeit
Deutschlands tiefster Erniedrigung erkannt zu haben, daß ein Volk
durch Körper- und Waffenübungen wehrhaft und fähig wird, seine
nationale Unabhängigkeit zu behaupten." [Im Orig. gesperrt
gedruckt; Anm. d. Übers.] Auch in der Bundesrepublik Deutschland
begann man sich wieder "an diesen staatspolititschen
Wertmaßstäben auszurichten", als am 31. Mai 1968
Bundespräsident Heinrich Lübke in Berlin u. a. ausführte: "Wenn
man zurückdenkt an die jungen Männer, die hier in Berlin auf der
Hasenheide im Jahre 1811 von Turnvater Jahn (!) angeregt mit ihren
Übungen begannen, weil sie wollten, daß in dem gedemütigten Land
ein neues Lebensgeföhl enstehen sollte, das Voraussetzung war für
einen Wiederaufstieg Preußens und Deutschlands, dann wird das
politische Moment beim Entstehen der Turnbewegung deutlich."
(Aus: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung;
5. Juni 1968, Nr. 70/S. 595 f.)
(20) Vgl. Brigitte
Theune, Volk und Nation bei Jahn, Rotteck, Welcker und Dahlmann; in:
"Historische Studien", Berlin 1937, Heft 319.
(21) Als im Jahre 1879 im
geeinigten Deutschland die antisemitische Hetze begann, schrieb der
alte Romanschriftsteller Berthold Auerbach an einen Freund: "Ist
es nicht schrecklich, daß alles nochmals sein muß? Vor nun fünfzig
Jahren hat Hofacker in Stuttgart und dann Rotteck in Karlsruhe gegen
die Juden gegeifert, und das immer wieder. Es läßt mir keine
Ruhe..." (Vgl. Kobler, Juden und Judentum in deutschen Briefen;
a. a. O., S. 270).
(22) Vgl. Franz Schnabel,
Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert; Freiburg/Breisgau
1933, Bd. II, S. 245-248.
(23) Saul Ascher, Die
Wartburgs-Feier...; Leipzig 1818, S. 34.
(24) Dieser lange Brief
wurde vollständig veröffentlicht von O. F. Scheuer; a. a. O., S.
17-19.
(25) Max Weber,
Wissenschaft als Beruf; vgl. Ausgabe R. Aron, Max Weber: le savant et
le politique; Paris 1959, S. 61.
Quellen und Copyrighthinweis: Dieser Text wurde aus dem Sammelwerk "Geschichte des Antisemitismus" Bd. 6
"Emanzipation und Rassenwahn", S. 184 - 196, der Auflage des Verlages Georg Heintz, Worms 1987, in
der Übersetzung von Prof. Dr. theol. Rudolf Pfisterer, [ISBN 3-921333-86-5], eingescannt.
Der Text soll Bildungszwecken dienen und auf das Werk dieses grandiosen Forschers
Léon Poliakov aufmerksam machen bzw. darauf hinweisen.
Es sollte - insbesondere in der BRD - in jeder Lehrerbibliothek stehen.
© Editions Calmann-Lévy S.A., Paris. Originalausgabe: Histoire de l'Antisemitisme
Analog des Antisemitismus - der auch ohne Juden existiert - existiert der Rassismus als
Unkulturchauvinismus und
verallgemeinerter Dissozialität auch ohne Rasse(n) (fort). Es scheint in dieser abendländischen Zivilisation einen Zwang zur Identifikation
mit dem Selbstidentischen zu geben, der aus der Familienneurose entsteht, die das "Fremde" ängstlich
ablehnt und dem "Anderen" deshalb die 'eigene' Kultur (sowohl deren Ideologie -
also damit auch Religion - wie auch Lebensweise, wirtschaftliches
und politisches System etc.) aufnötigt.